Was versteht man unter Kinetismus?

Der Kinetismus entsteht in Wien, sein Begründer ist der international anerkannte Pädagoge Franz Čižek. In den 1920er Jahren leitet er die Klasse zur ornamentalen Formenlehre an der Wiener Kunstgewerbeschule. Seine Schüler fordert er dazu heraus, sich nicht auf Naturstudien zu beschränken, sondern sich intensiv mit den Vorkriegsavantgarden zu beschäftigen. Das Ziel Čižeks ist, dass seine Schüler die Formensprache und Ausdrucksweise der Künstler vor ihnen in ihren Werken aufgreifen und weiterentwickeln.

Unter der Anleitung von Čižek formiert sich an der Wiener Kunstgewerbeschule eine eigenständige Rezeption von Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus.

Die beteiligten Künstler waren nicht Mitglieder einer Künstlergruppe, sondern eine Schulklasse. Und sie haben keinen eigenen Stil entwickelt, sondern bereits entwickelte Kunst vermischt. Diese beiden Punkte – die Kunstschaffenden als Schulklasse, die sich mit bereits Vergangenem auseinandersetzten – gehörten im 20. Jahrhundert zu den grossen Tabus, die lange eine ernsthafte kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem Kinetismus behinderten.

Zu den Hauptvertretern zählt vor allem Erika Giovanna Klien. Ihr Schaffen ist auch in unserer Galerie in Zürich zu bewundern.

 

Anfänge des Kinetismus im Expressionismus

Čižek ist seit 1904 an der Kunstgewerbeschule als Lehrer tätig. Der Kinetismus entsteht als revolutionäres Experiment an der damaligen Kunstgewerbeschule in der Klasse Čižeks. Sein reformpädagogisches Konzept setzt auf schöpferisches Gestalten (auch frühere Kunst miteinbeziehend), statt blossem Abbilden. Die Anfänge des Kinetismus sind sicherlich im Expressionismus zu suchen, denn der freie Umgang mit Form und Farbe sowie die Fokussierung auf subjektive und individuelle Eindrücke entsprechen Čižeks Ideen.

Die Klasse Čižeks besteht vor allem aus Frauen, da sie an der Kunstgewerbeschule im Gegensatz zur Universität bereits zugelassen waren. Zu den Protagonistinnen der Bewegung zählen unter anderem die Künstlerinnen Erika Giovanna Klien, My Ullmann und Elisabeth Karlinsky.

Die damals in der internationalen Kunstszene berühmte Klasse wurde von ihm wie ein Labor geführt. Aus Emotionen folgten expressionistische Formen; somit sollte die “Mystik des Herzens” den Weg des Kopfes zeigen und zur Kunst führen. Der Kinetismus war für Čižek “ein vom Leben durchpulster Aktivismus”, wie er selbst zitiert wird.

1920 fand eine grosse Ausstellung von Werken der Kinetismus-Klasse in Wien statt; drei Jahre später begannen Wanderausstellungen durch die USA. 1924 wurde der Kurs für “Ornamentale Formenlehre” auf Grund von Umstrukturierungen der Schule an seinem künstlerischen Höhepunkt aufgelöst.

 

Kinetismus gerät schnell in Vergessenheit

Nach dem Ende des Kurses geriet der Kinetismus mit seinen Schülerinnen, die zeitlebens bis auf die Ausnahmen Klien, Ullmann und Karlinsky mit dem Stempel des Kunstgewerbes versehen blieben, weitgehend in Vergessenheit. Ähnlich wie bei vielen Kunstschaffenden der Wiener Werkstätte erlitten die Künstlerinnen des Kinetismus ein ähnliches Schicksal und blieben weitgehend anonym.

Der Nachlass Čižeks wurde erst in den späten 1960er Jahren in einer Volksschule wieder entdeckt und somit konnte die Aufarbeitung des Kinetismus beginnen.

 

Bekannteste Vertreterin des Kinetismus: Erika Giovanna Klien

Die bildende Künstlerin und Kunstpädagogin Erika Giovanna Klien war die wichtigste Vertreterin des Wiener Kinetismus. Kunst und Leben bildeten für sie eine Einheit, die Tochter aus einem wohl behüteten kleinbürgerlichen Elternhaus eines Beamten verwischte früh die Grenzen zwischen künstlerischer Arbeit und Alltagsleben. Sie interessierte sich für das Zeichnen und konnte ab 1919 die Kunstgewerbeschule in Wien besuchen. An dieser Schule, der späteren Hochschule für Angewandte Kunst, herrschte in der Nachkriegszeit eine enorme Experimentierfreude. Bedeutende Künstler gehörten zu den Lehrern der Schule, die sich mit den Strömungen der europäischen Avantgarde, dem Futurismus und Kubismus, dem Konstruktivismus und den Lehren des Bauhaus auseinandersetzten. Besonders wichtig für Erika Giovanna Klien sollte der charismatische Reformpädagoge Franz Čižek werden. Mit der Aufforderung, ihre Emotionen auszudrücken, versuchte er jenseits von Stilkonventionen das schöpferische Potential seiner Schülerinnen zu befreien. Bei diesem Lehrer konnte sich das Ausdrucksbedürfnis der verhinderten Schauspielerin frei entfalten. Und so wurde sie zum Star der Kunstströmung Kinetismus. In ihrem Werk sticht vor allem das Marionettentheater hervor, das stark vom Wiener Kinetismus geprägt ist: es ist die Darstellung einer Kunst der Bewegung im Raum, als deren Begründer Franz Čižek gilt und die als Ausdruck des Empfindens konzipiert wurde. Seine begabteste Schülerin entwickelte als einzige seine Ideen auf eigenständige Weise bis an ihr Lebensende weiter und gestaltete prozesshafte Bewegungsabläufe: beispielsweise Tanz, Vogelflug oder abstrakte Bewegungsrhythmen tauchen immer wieder als bestimmende Bildthemen in ihrem Werk.